Jetzt gibt es kein Halten mehr für Urian Kauffmann. Er weiß das er tot ist und er weiß auch, was ihn all die Jahre so gekitzelt hat, daß er bei jeder Gelegenheit explodiert.
Wie aus der Kanone geschossen rast er los, ihm egal in welche Richtung. Wie ein wildes Tier brüllt er aus Wut und Schmerz und rast direkt durch die Decke ohne es zu merken.
Als er das Eisen so großmäulig stemmte, hatte er plötzlich das Gefühl ein riesiger Elefant würde sich auf seine Brust setzen. Dann spürt er plötzlich einen Schlag, keinen so vertrauten Faustschlag wie aus seiner Jugend. Nein, es fühlte sich mehr so an, als würde ihn eine unbegreifliche Kraft in zwei Teile reißen. Als hätte ihm jemand das Rückgrat durch die Brust herausgerissen.
Er greift sich an die linke Brusthälfte, spürt den Schmerz, den Druck, das Brennen und begreift: Jetzt. Kein Zorn mehr, keine Kraft mehr, nur Stille.
Er ist allein. Die Wut, sie ist noch bei ihm, aber jetzt kann er sie klar benennen.
Sie beherrscht ihn nicht mehr.
Aber sie begleitet ihn weiter.
Jetzt: Still.
Aber er ist immer noch sauer, aber jetzt eben gerade, weil er tot ist. Er bemerkt, daß er schwebt, hoch über dem Haus in dem er mit seinem Kollegen Toni seit über einer Woche gearbeitet hat. Aber im Gegensatz zu Ernst, hat Urian überhaupt keine Probleme damit sein Geisterdasein zu akzeptieren.
Ganz im Gegenteil, er fühlt sofort die Macht die ihm dieser Zustand verleiht und so sinkt er wie eine Kanonenkugel wieder runter, da wo sein toter Körper jetzt im Eisenkeller liegt. Toni kniet neben ihm und hat den Notruf gewählt und gibt gerade die Adresse durch. Aber beide wissen, daß es schon zu spät ist. Urian, weil er als Geist danebensteht und sein Kollege Toni, weil Urians Mund und Augen weit aufgerissen sind. Toni ist kein Arzt, aber er hat genügend Actionfilme gesehen, um beurteilen zu können, wann jemand Mausetot ist. Deshalb gibt er sich auch keine Mühe mit Mund-zu-Mund Beatmung oder Herzdruckmassage. Außerdem steht Toni steinstarr unter Schock.
Urian greift
nach Tonis Arm. Seine geisterhafte Hand durchdringt ihn mühelos, aber als sie
sich auf dessen Bauchhöhe senkt, zuckt der plötzlich zusammen.
Eine Sekunde später krümmt er sich, greift sich an den Magen.
„Verdammt, was…?“ stöhnt er.
Urian
grinst. Dann seufzt er.
War’n netter Kerl, der Toni.
Er kann nichts dafür.. er zieht seine Hand zurück. Und dann sieht er es.
Um den
Körper des Mannes herum wabert plötzlich ein Schimmer.
Weiß. Sanft. Wie Licht, das durch junge Blätter fällt. Er spürt sofort, daß es
Tonis Angst ist.
Und dieser Geruch… wie ein Frühlingsmorgen im April, mitten in dieser stickigen
Muckibude ohne Sonnenlicht.
Urian
runzelt die Stirn.
Was zum Teufel war das?
Er atmet tief ein, Geist hin oder her, in der Vorstellung von sich selbst hat er immer noch einen Körper.
Und spürt… etwas.
Wie ein Prickeln in der Brust.
Wie Leben.
Ein bisschen davon.
Wie ein
Hauch Erinnerung, wie ein Schwips.
„Heilige Scheiße…“, murmelt er. „Das schmeckt ja… echt.“
Jetzt wird es Urian doch ein bisschen unheimlich und er denkt:
„Bin ich jetzt ein Vampir? Aber Vampire trinken doch Blut, keine Angst.“
Urian
will gerade das Fitnessstudio verlassen und andere Menschen erschrecken, da
materialisiert,
ohne Vorwarnung, Ernst Graumann im Raum. Und während Ernst noch die neue
Umgebung wahrnimmt, den Raum scannt und die Lage sondiert, wird er auch schon
von Urian angeblafft:
„Hey, Du! Bist du auch so’n verficktes Gespenst?!“
Urian
versucht instinktiv, Ernst anzugreifen, er holt aus wie ein Boxer, der einen
LKW stoppen will.
Doch seine Faust rast durch Ernsts Brust, als wäre sie aus Rauch. Naja,
irgendwie ist das ja auch so.
„Mann, was bist Du denn für einer? Kannst du nicht mal richtig rumstehen?!“
Ernst hebt nur die rechte Augenbraue und konstatiert „Faszinierend, Ihre Energie zeigt eine Amplitudenmodulation im Frequenzbereich menschlicher Aggression.“
Urian rollt mit den Augen:
„Mann! Laberst du immer so’n Scheiß? Oder bist du nur tot und bescheuert?“
Doch dann merkt Urian: Dieser Spinner könnte nützlich sein.
„Wenn du
so schlau bist: weißt du, wie man als Geist Bier trinkt? Komm, wir gehen in ’ne
Bar.
Ich wette, ich kann Leute zum Kotzen bringen, wenn ich ihnen ins Hirn furze.“
Ernst ist entsetzt… aber auch fasziniert von der Möglichkeit, Emotionen zu manipulieren.
„Also“ grinste Urian und rieb sich die Hände. „Willst du mitkommen und was erleben, oder soll ich dir erstmal ’ne Formel auf ’n Grabstein ritzen?“
Ernst seufzte. Es würde ein langer Tod werden.
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