Sonntag, 3. August 2025

Urians Zorn: Teil 2 Ernst Graumann

 


Ernst Graumann ist hochgewachsen, dünn, blutleer. Ein menschlicher Flamingo in Grau.
Er ist das komplette Gegenteil von Urian: schmal, mit hängenden Schultern. Ein Mann wie ein aufrechtstehendes Rohr mit Brille im Kittel. Er ist Apotheker von Beruf, ein Mann der Wissenschaft, Ordnung und exakten Dosierungen. Aufgewachsen in der DDR, geprägt vom Misstrauen gegenüber allem, was Kontrolle ausübt. Ein Handy trägt er nicht bei sich, schon aus Prinzip:

„Nur Dienstboten müssen immer erreichbar sein.“

Ernst fürchtet die Überwachung, aus Erfahrung mit der Stasi. Er hat früh gelernt rechtzeitig genug schlau zu sein um nicht aufzufallen. Auch wenn jetzt vieles anders ist, er kommt aus seiner Haut nicht heraus. Als junger Mann hatte er mit Elektronik experimentiert, baute selbst ein Gerät zur Messung von Gehirnströmen das eigentlich mal Gedanken lesen sollte, für seinen Opa, der nach einem Schlaganfall nur noch sabbern konnte. Oder ein anderes das einen Roboterarm steuern sollte. Medizinische Geräte wie EEG, EMG, EKG, fMRT, PET, er kennt sie nicht nur, er weiß, wie sie gebaut sind, wie sie funktionieren und was sie bedeuten. Sein Vater fand jedoch:

„Erfinde lieber was Neues, womit man Geld verdienen kann, was praktisches!“

Ernst glaubt nicht an Gefühle. Er erlebt sie, aber wie durch eine Glasscheibe. Beobachtend. Analysierend. Er lebt das klassische Apothekerleben. Studiert, arbeitet, wird schließlich selbstständig und baut ein Haus. Aber kein Haus für Frau und Kind. Ernst Graumann baut ein Haus für seine Apotheke. Unten in der Ladenzeile sitzt er wie die Spinne im Netz und oben in den drei Stockwerken darüber lässt er viele verschiedene Ärzte einziehen. Auf diese Weise bezahlt sich das Haus von selbst. Die Ärzte zahlen Miete und ihre Patienten bringen zusätzliche Einnahmen in seine Apotheke, eine perfekte Symbiose. Geldsorgen hat er nie.

Aber sein Hobby aus Jugendtagen hat ihn nie ganz losgelassen. Auch wenn er mit Leib und Seele Apotheker ist, so beschäftigt er sich nach wie vor mit Elektronik, Computern und dem Internet. Er kommt gerade aus dem Schreibwarenladen nebenan, da packt ihn ein spontaner Gedanke. Also nimmt er sich sein neues eben gekauftes Notizbuch und beginnt, seine Gedanken aufzuschreiben. Bloß nicht vergessen, die Idee ist brillant, das könnte tatsächlich funktionieren!

Als er von dem LKW überfahren wird, spürt er einen Stoß. Keinen Schmerz. Keine Angst. Nur einen Druck, als ob ihn jemand geschubst hat. Nur das er immer noch auf dem Gehweg steht. Daß er stirbt, begreift er nicht sofort. Er steht auf dem Gehweg, sieht seinem eigenen Körper beim Sterben zu und sucht nach der versteckten Kamera. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr, alles um ihn herum wirkt wie eine Inszenierung. Wer schreit denn hier so?

Er sieht den Fahrer des LKW mit starrem Blick und weit aufgerissenen Augen.
Stumm wie ein Fisch, aber irgendwer schreit hier. Er blickt sich um und sieht seinen Nachbarn, den Inhaber von Radio- und Fernsehladen Klaus Blitz. Er greift nach seinem Handy und wählt mit offenem Mund den Blick starr auf das Telefon gerichtet. Er duckt sich, so als ob Granaten einschlagen würden und hält sich beide Hände an den Kopf. Dann geht er in den Laden nach hinten und damit außer Sicht.

Dann kommt das Licht und er hört eine Stimme, wie sie seinen Namen ruft.

Ernst hält das Licht zuerst für einen Scheinwerfer. Dann für einen Hubschrauber.
Vielleicht das Fernsehen. Oder ein UFO. Das Licht zieht ihn wie magnetisch an und er berechnet wie viel Tesla magnetische Feldstärke wohl im Spiel sind, aber er bleibt stehen. Wieder hört er seinen Namen.

„Ich gehe da nicht rein, ohne dass ich weiß, was das ist. Ich bin doch kein Idiot.“

Und so bleibt er. Ohne Angst. Ohne Neugier. Ohne Regung. Ein Geist, der nicht weitergeht, weil er auf Beweise wartet. Und plötzlich schießt es ihm durch den Kopf:

Gewichtskraft:                                   Fg​ = m
g = 65kg 9,81m/s² ≈ 637,65N
Magnetische Kraft (diamagnetisch) Fm​ = μ0​χ ​
V B B
Etwa 40 Tesla wären nötig, um mich da rein zu ziehen!

Das geht nur über Diamagnetismus – also Abstoßung, nicht Anziehung.
Selbst ein MRT schafft nur 1,5 bis 3 Tesla, aber die Amerikaner haben im Labor schon dauerhaft 45 Tesla erreicht! Also doch Außerirdische! Jetzt könnte er wirklich so eine Handykamera gebrauchen, denkt er. Aber anstatt dessen notiert er sich die Kraft und die Formel, die ich jetzt wieder eingefallen ist in sein neues Notizbuch.

Ernst glaubt, sein Ruhepuls schnelle Panisch von 60 auf 62 Schläge pro Minute, aber er irrt sich. Als er die lange rote Spur unter dem Zementlaster sieht, erkennt er das sich hier eine Tragödie abgespielt hat.

„Na, den hat’s gründlich zerlegt“, denkt er und will zurück in seine Apotheke gehen.
Aber als er vor der Tür steht, versagt der automatische Türöffner. Er hebt die Hand zum Bewegungsmelder und winkt, aber das blöde Ding reagiert nicht. Die Tür bleibt zu.
Er will den Griff packen und die Tür aufstoßen, da…

Was ist das? Seine Hand greift ins Leere!
Eine ganze Weile bleibt er vor der Tür so stehen.
Niemand geht hinein, niemand kommt heraus.
„Das kann doch nicht sein?!“ Sein Verstand muss das verarbeiten.

Zwei Polizisten kommen und die Apothekentür öffnet sich wie von Geisterhand.

Er geht noch vor den Polizisten hinein und sieht das bleiche Gesicht seiner Angestellten,
Susi Obendick, hinter dem Tresen an der Kasse.

Die Polizisten, ein Mann und eine Frau, bestätigen was die Pharmazeutisch-Technische Angestellte schon ahnt. Ihr Chef ist tot. Ernst steht dabei aber er kann es immer noch nicht glauben. Er sieht an sich hinab und stellt fest, daß alles in Ordnung ist. Arme, Beine, Kopf, Körper. Alles intakt. Er sieht auf die Uhr, eine edle 1990’er Rolex Datejust 36, deren silbernes Ziffernblatt matt im indirekten LED-Licht der Apotheke schimmert. Sie ist stehen geblieben. Der Sekundenzeiger ruht reglos auf der Fünf. Normalerweise bleibt eine Rolex nicht stehen, deswegen hat er sie unter anderem gekauft. Wegen ihrer Zuverlässigkeit und dem bekannten Perpetual-Rotor, der dafür sorgt, das die Uhr sich bei jeder Bewegung des Trägers selbst aufzieht. Aber jetzt stehen die analogen Zeiger seiner Uhr bei 14:42:05. Dem Zeitpunkt, wo der Laster über seinen schmalen Körper gerollt ist.

Die Polizisten überreichen der Angestellten eine Visitenkarte mit dem Aktenzeichen des Vorfalls und sind danach bald weg. Außer die traurige Nachricht zu überbringen, konnten sie nicht viel tun. Ernst Graumann hatte keine Angehörigen. Alle nahen Verwandten sind bereits verstorben. Nachdem das geklärt war, sprachen sie die in so einem Fall üblichen Floskeln und gehen wieder zum Tagesgeschäft über. Susanne Obendick führt das Geschäft noch bis Tagesende. Dann schließt sie ab und geht nach Hause. Sie mochte ihren Chef.

Susi und Ernst waren per Du, hatten aber ansonsten eine rein professionelle Beziehung.
Insgesamt arbeiteten vier Personen in der Apotheke. Neben Ernst Graumann als Chef war da Susi Obendick, die PTA mit dem besten Gedächtnis der Stadt sowie Frau Merten, die stille PKA im Hintergrund. Dazu kam Lena, eine junge Teilzeitkraft aus der Nachbarschaft, die montags und donnerstags nachmittags Regale auffüllte.

Susi war blass, aber gefasst. Sie bedankte sich höflich bei den Beamten, steckte die Visitenkarte in ihre Kitteltasche und ging zurück hinter den Tresen.

Es war nicht einmal ein bewusster Entschluss, eher ein Reflex. Die Uhr lief weiter, die Kunden kamen. Und sie machte weiter. Dass sie eigentlich hätte schließen müssen, war ihr erst klar, als der letzte Kunde mit seiner Nasensalbe die Tür hinter sich schloss. Deutsche Gesetze und so, keine Apotheke darf ohne Apotheker laufen. Eigentlich. Eine öffentliche Apotheke darf nur unter der ständigen persönlichen Leitung eines approbierten Apothekers betrieben werden. Ohne anwesenden Apotheker darf weder beraten noch ein Arzneimittel ausgegeben werden egal wie qualifiziert das Personal sonst ist (also auch keine PTA oder PKA). Also, streng genommen hätte sie nicht einmal Pflaster verkaufen dürfen, wenn Ernst auf Klo war. Ernst hatte ihr erzählt, daß so etwas schnell mal €25.000,-- Strafe kosten kann.

Jetzt kramte sie Zettel und Klebeband aus der Schublade und schrieb mit fester, sachlicher Handschrift:

„Wegen eines Trauerfalls bleibt die Apotheke bis auf Weiteres geschlossen.“

Frau Merten hatte am Nachmittag versucht, den alten Kollegen Dr. Ruhland zu erreichen, einen pensionierten Apotheker, der früher in Altona eine eigene Apotheke geführt hatte. Vielleicht konnte er die Vertretung übernehmen, bis alles geklärt war. Drei Monate blieben ihnen, sagte sie. Drei Monate, bis die Behörden die Apotheke dichtmachten, oder jemand Neues den Laden übernahm.

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