Mittwoch, 6. August 2025

Urians Zorn: Teil 6 - Geisterschnaps


 

🍺 „Geisterschnaps“

„Also, eigentlich trinke ich keinen Alkohol. Höchstens ab und zu mal. Außerdem ist es wirklich 
noch ein bisschen früh für Bier.“

Ernst ging die Sache diplomatisch an.

Und er musste an Melissa denken. Sie war wirklich ein hässlicher Vogel, aber total nett. Und 
extrem schlau. Sogar für seine gehobenen intellektuellen Verhältnisse.

Sie hatten sich an der Uni kennengelernt, wo Melissa Psychologie studierte. Sie hatte ihm von 
dieser seltsamen Dynamik unter Frauen erzählt:

Oft sind eine bildhübsche doofe und eine weniger attraktive, dafür aber blitzgescheite die besten Freundinnen.

Bei Männern sei das ganz ähnlich, sagte sie:

„Da siehst Du oft einen, der strunzdoof, aber groß und stark ist, mit einem anderen abhängen, 
der sehr schmächtig, dafür aber hochintelligent ist. Beide, sowohl die beiden Frauen, als auch 
die beiden Männer, bilden eine Art Symbiose. Der eine hat, was dem anderen fehlt. Sie ergänzen 
sich gegenseitig.“

Das war die Komplementaritätshypothese nach Prof. Dr. Prügel-Peitsch (1969)

„Im Sozialverhalten gleichgeschlechtlicher Dyaden neigen asymmetrische
Persönlichkeitsmerkmale zur dyadischen Stabilitätskompensation.“
Ein Merksatz wie Donnerhall, der ihm seitdem nicht aus dem Kopf ging.
Im Laufe seines Lebens musste Ernst oft daran denken. So wie jetzt gerade.

Denn trotz der ruppigen Begrüßung war ihm dieser Grobian irgendwie sympathisch. 
Und er hatte ganz offensichtlich Humor.

„Sag mal, wie heißt du überhaupt?“ fragte Ernst Urian geradeheraus.

„Ich bin Urian Kauffmann. Malermeister seit 1882, jetzt in fünfter Generation.
  Mein Opa hat schon bei Kaisers gestrichen!“

Antwortete Urian und streckte seine Ernst seine klodeckelgroße Hand zum Gruß entgegen.

„Und Du?“ fragte er zurück.
„Ich bin Ernst…“
„Ja, das sehe ich, aber ich wollte wissen, wie Du heißt.“ unterbrach Urian ihn.

„Apotheker Ernst Graumann, du Blödkopp, der Witz war ja mal richtig neu,
den hat vorher nie einer gebracht!“

Ernst grinste.

„Kein Bier vor Vier, is‘ schon klar. Aber irgendwo auf der Welt ist es immer 
schon Vier. Und ich hab jetzt Lust auf’n Bier, also komm, sei kein Frosch und 
komm mit.“ sagte Urian, drehte sich um und war weg.

„Urian?“ fragte Ernst und sah sich um. Die Rettungskräfte kamen gerade anmarschiert. 
Aber keine Spur von Urian.

„Ernst? Was is‘ nu‘? Brauchst Du noch ´ne extra Einladung?“ So, wie er verschwunden war,
war Urian aus dem nichts wieder aufgetaucht.

Ernst protestierte: „Du warst auf einmal weg, wo warst Du?“

„Ach, ja..“ antwortete dieser. „Wir sind ja jetzt Gespenster. Ich habe an einen schönen Kneipenabend gedacht und, schupps, war ich da. Hmm.. wie machen wir das? Gib mir mal Deine Hand.“
Ernst reichte ihm seine Hand, Urian verschwand und kam zurück.

„Mist, so wird das nix.“ fluchte Urian.

„Sieh mir mal in die Augen“ forderte Ernst Urian auf und dieser drehte sich langsam 
zu ihm hin und blickte ihm direkt in seine kalten stahlblauen Augen.
„Und jetzt?“ fragte Urian.

Ernsts Nase war eine gute Armlänge von Urians Gesicht entfernt. Dennoch spürte er gut die Macht, die nicht nur von den dunklen braunen Augen des Riesen ausging. Auch wenn er jetzt ruhig und sehr entspannt aussah.

„Jetzt denk noch mal an diesen Ort, an den Du wolltest.“ Forderte Ernst ihn auf.

Dieses Mal gelang es. Beide Männer materialisierten in einer urigen Kneipe.

„Ahhhh… na, geht doch!“ freute sich Urian.

Es gab hier keine Uhren, aber es musste wohl schon zu vorgerückter Stunde sein. 
Viele Menschen redeten durcheinander, aber sie schrien nicht. Es herrschte offensichtlich 
gute Stimmung, aber man musste nicht schreien um sich zu verständigen.

Über den Köpfen der Gäste schwebten sanfte Farbschleier. Gelb. Orange. Gold. Die Aura 
glücklicher Menschen. Warm und weich wie altes Licht in einem Kindheitszimmer.

Ernst und Urian nahmen beide die schimmernde Aura der Menschen wahr. Die einen 
schimmerten etwas mehr, andere etwas weniger. Aber ihnen allen schien es hier gut zu gehen.

„Sieht so Glück aus, eine goldgelbe Aura?“ dachte Ernst und sah Urian an. Aber auch der sah sich mit großen Augen um dieser Anblick war auch für ihn neu.

„Chef, zwei Bier!“ rief Urian in Richtung Tresen. Und wurde komplett ignoriert. Kein lebender Wirt nimmt Bestellungen von Geistern entgegen. Aber das war bei Urian noch nicht ganz angekommen.

Mit offenem Mund großen Augen und völlig verständnislosem Blick blieb er stehen.
Ach ja… verfluchtes Geisterdasein! Jetzt war der Groschen gefallen.

Ernst stand noch zwischen den Tischen und fühlte sich fehl am Platz. Urian hingegen hatte es sich am Tresen gemütlich gemacht, oder besser: schwebte lässig davor, die Ellbogen aufgestützt, ohne dass es physikalisch Sinn ergab. Niemand nahm sie wahr. Natürlich nicht. Sie waren tot. Und trotzdem hier.

„Schöne Bude“, murmelte Urian und deutete mit dem Kinn auf einen besonders ausgelassenen Tisch.
„Wenn ich noch was schmecken könnte, würde ich sagen: dunkles Bier, fettiger Flammkuchen und eine Prise Wochenendfrieden.“

Ernst beobachtete die Lichtschlieren, die sich wie Polarlichter über den Tisch zogen.
„Interessant. Die emotionale Grundfrequenz ist stabil. Euphorisch, aber nicht entgrenzt. Eine wohltuende Mischung.“

Urian verdrehte die Augen.
„Alter. Du sprichst wie ein scheiß Röntgengerät mit Doktortitel.“

Ernst wollte kontern, da geschah es.
Ein lautes Lachen. Übertrieben.

Zu laut. Zu breit. Zu viele Zähne. Der Typ am Ende des Tresens hatte eben der Bedienung auf den Hintern geklopft und nannte sie „Zucker“, als wäre er in einem schlechten 80er-Jahre-Film steckengeblieben. Seine Aura war trüb. Fast grau. Nur ganz tief darin ein dünner Streifen Restlicht.

Urian: „Ja, das mit dem Bier geht leider nicht mehr. Schade. Aber Pass auf, ich zeig dir was.
Hmmm… der da.“

Ernst: „Warum der?“
Urian: „Weil er das perfekte Opfer ist. Offensichtlich ein Arschloch, außerdem ist er der schwächste hier.“
Ernst: „Der schwächste? Im Ernst? So wie ich das sehe, könnte er Dir sein Motorrad 5-10 Meter weit hinterher werfen!“

Urian: „Ja, äußerlich. Aber hast Du mal, überlegt, warum diese Typen sieben Tage die Woche in der Muckibude sind? Na, los... komm mit.“

Urian schwebte vor, Ernst folgte neugierig, aber mit festen Schritten. Immer noch mehr Mensch als Geist.

Ernst hob warnend die Hand. „Ich bin mir nicht sicher, ob das ethisch vertretbar ist.“

Urian grinste.
„Ich nenn’s Weiterbildung. Für Dich und für Ihn.“

Er stellte sich direkt hinter den Mann und legte ihm die geisterhafte Hand ganz vorsichtig auf den Nacken. Dabei berührten seine großen Hände sowohl den Kopf, als auch die Schultern des Mannes.

Zunächst passierte nichts. Außer, daß der Po-Klatscher plötzlich stillstand. Der Typ hielt inne, wie ein Tier, das plötzlich das Heulen im Wald gehört hat.

Dann änderte sich seine Aura. Von schwachgrau zu leuchtend weiß. Kein Licht aus Lampe oder Kerze sondern etwas Lebendiges. Angst. Rein. Unverfälscht. Genau so wie bei Toni, nur viel stärker.

Seine Augen weiteten sich. Der Atem wurde flach.
Dann drehte er sich abrupt um. Niemand. Nur Leere.
Er rieb sich über den Nacken. Zitterte kurz.

Ernst war wie elektrisiert.
„Faszinierend. Angst scheint über den epigastrischen Bereich diffus wahrnehmbar zu sein.
Könnte man klassifizieren… vielleicht als psychoplasmatische Resonanz?“

Urian schloss die Augen, sog die Luft ein, als würde er ein Glas kippen.

Dann grinste er.

„Ich nenn’s einfach Geisterschnaps.“

Ernst: Ich frage mich, ob man das auch in Flaschen abfüllen könnte.“
Urian: „Was glaubst du, warum der Vatikan Angst vor Gespenstern hat?“

 

In einer ganz anderen Ecke weit hinten in der Kneipe sitzt Marvin und spielt mit ein paar Freunden Dungeons and Dragons, ein Fantasy-Rollenspiel. Er ist voll und ganz in seinem Element.

Vier Gläser, ein Haufen zerknitterter Charakterbögen, bunte Würfel. Ein Spieler in einem schwarzen T-Shirt mit dem Aufdruck „+2 auf Sarkasmus“ trug gerade den Kampfbericht gegen einen untoten Lich vor.

Marvin hob beschwörend den Arm.
„Ich wirke Detect Evil and Good auf die Aura dieses Wesens.“
Er sah dabei so konzentriert aus, als würde er wirklich die Geisterwelt durchdringen.

Bis er Ernst und Urian sieht. Ja, Wirklich sieht, und ihm alles wieder einfällt, was ihm
Oma Rosa immer erzählt hat und worüber er immer gelacht hat.

 

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